Die Göttin

Hätte sie mich erkannt? Ich traf mein früheres Ich

7. Juni 2025

Manchmal braucht es ein Gespräch mit dem früheren Ich, um zu begreifen, wie weit man gekommen ist.

Sie war wohl überpünktlich. Wahrscheinlich zu früh. Ich kam, wie immer, zu spät. Als ich die Tür zum Café öffnete, blieb mein Atem für einen Moment stehen: So jung. So unscheinbar. So voller Angst. So ich – damals. Ich fragte mich, ob sie mich erkennen würde.


Das kleine Glöckchen über der Tür klingelte leise, als ich eintrat – es kündigte neue Kundschaft an. Sie hob den Kopf, suchte mit ihren Augen, und blieb an meinem Gesicht hängen. Ich lächelte. Dieses Lächeln, das ich früher nie so richtig hinbekommen hatte. Ein paar Sekunden vergingen, bis sie begriff, wer ich war. Vor ihr stand – ganz typisch – eine große Tasse Tee. Ich ging auf ihren Tisch zu, ließ mich ihr gegenüber auf den Stuhl sinken. Mit einem stummen Handzeichen und einem kaum merklichen Lippenbekenntnis bestellte ich meinen Latte Macchiato. Ohne Zucker. Ohne Schnickschnack.


Als ich mich wieder zu ihr wandte, musterten wir uns einen Moment lang. Sie trug eine Skinny Jeans, einen übergroßen Pulli und ihre Superstars. Ihre schneeweißen Haare hatte sie in einem unordentlichen Dutt zusammengebunden. Ihre himmelblauen Augen wirkten fahl, fast grau. Die Brille thronte auf ihrem Kopf, nicht auf ihrer Nase. Ihre Energie war kaum spürbar – als würde sie gar nicht wirklich da sein. Ein Körper ohne wirkliche Präsenz.

Ich trug eine Lederleggings, ein schlichtes Top und meinen liebsten Cardigan. Schwarze Boots. Meine Haare waren kirschfarben, schulterlang. Keine Brille – nicht weil ich sie nicht bräuchte, sondern weil sie mich nervte. Meine Augen leuchteten. Türkis. Hell. Ich wusste, meine Ausstrahlung war heute kraftvoll. Ich nahm Raum ein. Und ich wusste, ich durfte das.


Wir sahen uns an. Eine Weile lang sagten wir nichts. Dann stellte ich ihr eine Frage: „Und? Was denkst du?“ Ich kannte sie gut genug. Sie war 15.  Sie grinste leicht, ein bisschen verschmitzt, ein bisschen verwirrt. „Viel und nichts?“, sagte sie. Ich grinste zurück, lehnte mich im Stuhl zurück, schob meine Ärmel nach oben und räusperte mich – bereit, ihr zu sagen, dass ihr Leben, so wie sie es kannte, bald nicht mehr existieren würde. Und dass das gut so war. Die junge Frau, die mir da gegenübersaß, war die pure Verkörperung von Angst. Und sie wusste es nicht einmal.


Ich schaute ihr in die Augen und sagte ihr, dass sie bald einen Menschen treffen würde. Und dieser Mensch würde eine Tür aufstoßen – zu einer Welt, in der sie in so vielen Dingen zum ersten Mal „Blut lecken“ würde. Dass dieses Treffen ein Startschuss sein würde. Und dass nichts mehr so bleiben würde, wie es war. Sie hob eine Augenbraue. Ich verstand den Zweifel – alleine hier zu sitzen, mir gegenüber, kostete sie wahrscheinlich alles. Ich war so stolz auf sie. Aber ich wusste auch, dass ich ihr noch etwas sagen musste. Etwas, das tiefer ging. Ich beugte mich vor, nahm ihre Hände in meine. Atmete einmal tief ein. Und aus. Dann lächelte ich sie an.



„Atme. Ich weiß du erstickst. Ich weiß du kämpfst und verstehst nicht, wie die Welt da draußen funktioniert, da deine eigene Welt so anders funktioniert. Es wird der Augenblick kommen, schneller als du denkst, da wirst du eine Diagnose erhalten. Die darauffolgenden 6 Monaten werden dein ganzes Leben verändern und deine Grundpfeiler deines wahren Ichs bilden. Du bist ein Mensch der eine alte Seele beheimatet, du wirst für immer kämpfen. Für immer dafür kämpfen du selbst zu sein. Für immer für deinen Weg kämpfen. Du wirst zweifeln. An der Liebe. An Familie. Du wirst vieles anzweifeln, aber du wirst lernen. Aus allem lernst du, denn du vertraust. Du vertraust dir. Es werden so schöne Hochs kommen, aber auch viele lernende Tiefs. Du wirst dieses ganze Drama lieben und irgendwann automatisch in dein Leben ziehen, weil du nicht stehen bleiben willst. Es werden so viele Dinge passieren und dein Weg wird so verlaufen wie du es dir jetzt NIEMALS vorstellen kannst. Es wird dein Weg sein. Vertraue und liebe“. 


Ich lächelte sie an und zwinkerte. Sie sah mich an. Tränen liefen ihre Wange runter. Sie grinste und sagte „Ich weiß.“. Ich stand auf, wir schauten uns tief in die Augen, ich nickte grinsend und drehte mich um. 


Ich wusste ihr Weg wird „anders“. Aber ich wusste, aus eigener Erfahrung, dass ich all das schaffe und schaffen werde. 

Wer hier schreibt?

Ich – Ronja Amelie.

Mama, Mentorin, Freigeist. Ich schreibe hier ehrlich, direkt und mitten aus dem Leben. Über das Frau-Sein, das Mutter-Sein, das Ich-Sein – und über all die verrückten, wundervollen und manchmal schmerzhaften Zwischenräume dazwischen.

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